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15.04.1989, Hillsborough – You’ll never walk alone

Das Halbfinale im FA-Cup zwischen dem FC Liverpool und Nottingham Forest sollte am Samstag, dem 15.04.1989, im altehrwürdigen, wenn auch leicht baufälligen Hillsborough-Stadion stattfinden. Damals wurden die KO-Spiele auf neutralem Platz ausgetragen, und so traten die Mannschaften auf dem Heimfeld von Sheffield Wednesday an. Auch wenn die Fans von Forest den kürzeren Weg (rund 46 Meilen) hatten als die Supporters der Reds (knapp 80 Meilen), waren fast viermal so viel Menschen aus Liverpool angereist. Dass die Veranstalter dies nicht berücksichtigt hatten, wurde 96 von ihnen zum Verhängnis.

Aus Sicherheitsgründen – wir reden von der Zeit der schweren Hooligan-Auseinandersetzungen in England – hatte man den Forest-Fans die Stehplätze hinter dem Tor auf der Ostseite reserviert und für die Liverpudlians die Westtribüne vorgesehen. Wie damals üblich waren die Stehplätze in Blocks aufgeteilt, die mit hohen Zäunen voneinander abgegrenzt waren. Obwohl klar war, dass die Menge aus Liverpool um ein Vielfaches größer sein würde als die aus Nottingham, hatte man beiden Vereinen jeweils 6.000 Tickets zugeteilt. Deshalb standen die Forestiers locker in ihrem Käfig; die links und rechts angrenzenden Blöcke waren vollständig leer. Während die Ostseite über den Haupteingang zu erreichen war, mussten sich die geschätzten 7.000 Reds-Supporters – viele waren ohne Eintrittskarte angereist – durch die (damals) schmale Leppings Lane drängeln, um dann an speziellen Sperren zu warten, die von berittener Polizei bewacht wurden. Praktisch einzeln konnten sie in den Bereich, der zu den eigentlichen Eingängen (Gates) führte. Das Chaos war groß, die Polizei hilflos. Obwohl noch rund 2.000 Fans des FC LIverpool draußen drängelten und obwohl dies den Veranstaltern bekannt war, wurde das Spiel pünktlich um 15:00 angepfiffen.

Die Masse, die das mitbekam, drängte stärker. Aber dabei bestand wenig Gefahr für die Einzelnen. Ins Stadion kamen sie ebenfalls beinahe einzeln. Um in den mittleren Block zu gelangen, mussten sie durch einen Tunnel unter der Tribüne, um von dort aus einen Platz zu suchen. Der Mittelblock war zu diesem Zeitpunkt schon eine Sardinenbüchse; dadurch, dass die neuen Zuschauer in kleinen Gruppen eintrafen, konnte sich die Masse dort so verschieben, dass immer noch bisschen Platz geschaffen wurde. Dann aber verlor die Polizei völlig die Kontrolle und veranlasste, dass das Gate C geöffnet wurde, das direkt gegenüber dem Tunneleingang lag. Nun strömten die Liverpool-Fans auf einmal genau auf diesen Tunnel zu – und dass, obwohl in den Blocks links und rechts noch viel Platz frei war.

Die Katastrophe
Auf einen Schlag drängten fast 2.000 Menschen in den völlig übervölkerten Block. Die Nachströmenden konnten aber nicht nach oben, sondern wurden unmittelbar am Zaun zum Spielfeld eingeklemmt. Gleichzeitig erhöhte sich der Druck auf die darüber Stehenden immer größer. Das Spiel war bereits im vollen Gang, als das Desaster um ziemlich genau 15:06 seinen Lauf nahm. Verzweifelte Menschen, viele hatten bereits Knochen- und Rippenbrüche erlitten, versuchten, Luft zu bekommen, manche waren zu Boden gegangen, andere traten auf die Liegenden. Schmerzensschreie erhoben sich. Hunderte versuchten, über den Zaun zum Spielfeld zu klettern, wurden aber zunächst von Ordnern und Polizisten daran gehindert. Ein Ordner rannte quer übers Spielfeld zum Schiedsrichter, der etwa gegen 15:10 das Spiel abbrach.
Die Polizei hatte derweil einen Sperrkordon auf Höhe der Mittellinie aufgestellt, weil man immer noch annahm, die Fans der Reds würden eine Pitch Invasion starten, also über den Platz zu den Fans von Forest stürmen, um diese zu vermöbeln. Da waren die ersten Menschen in den Blocks 3 und 4 der Weststands bereits tot. Obwohl sechs oder sieben Krankenwagen auf dem Platz hinter der Nordtribüne bereitstanden, wurde ihnen nicht erlaubt, aufs Feld zu fahren. Ein aufrechter Fahrer widersetzte sich und traf als Erster am Ort der Tragödie ein. Rund zehn Minuten nach dem Abbruch lagen 95 Leichen auf dem Rasen – ein Opfer starb später an den Folgen. Mindestens 200 weitere Fans des FC Liverpool wurden mehr oder weniger schwer verletzt.

Über Minuten hatte die Polizei Liverpooler daran gehindert, ihren Leuten zu helfen. Erst als die ersten schon gestorben waren, wurde ein Tor zum kaum gefüllt Block 2 geöffnet, sodass einige dorthin flüchten konnten. Viele wurden von Fans gerettet, die sie vom Oberrang aus zu sich heraufzogen. Auf dem Rasen versuchten Davongekommene Opfer mit Mund-zu-Mund-Beatmung zu reanimieren. Erst mehr als eine Viertelstunde nach dem Beginn der Katastrophe kamen die anderen Krankenwagen aufs Feld.

Die Medien
Wenige Tage nach der Katastrophe gelangte die Boulevardzeitung The Sun zu trauriger Berühmtheit. In einem der übelsten und widerwärtigsten Coup aller Zeiten machte das Schmierblatt mit einer Story auf, nach der Liverpooler die Taschen der Toten ausgeräumt und Besoffene die Polizisten, die helfen wollten, angepinkelt und geschlagen hätten. Natürlich waren das nur übelste Lügen. Entsprechend groß war die Wut in Liverpool, wo eine Boykottaktion dazu führte, dass die verkaufte Auflage des Ekelblatts von knapp 400.000 auf kaum 12.000 sank. Weder Verleger, noch Chefredakteur konnten sich je zu einer Entschuldigung durchringen. Man versuchte sogar, den Trainer der Reds, damals der legendäre Kenny Daglish, einzuspannen, um die Lage zu entspannen. Aber der entgegnete nur, man sollte sich in gleicher Form und gleicher Größe auf der Titelseite bei den Hinterbliebenen entschuldigen. Die Sun wird noch heute von kaum mehr als 10.000 Liverpudlians gekauft…

Die Verantwortlichen
Lord Justice Peter Taylor wurde beauftragt, einen Bericht über die Ereignisse anzufertigen und zu benennen, wer in welcher Hinsicht verantwortlich für das Desaster war. Das Ergebnis war deutlich: Unmittelbare Ursache für die Tragödie war das Öffnen des Gate C und die Tatsache, dass die nachströmenden Fans durch den Tunnel in den Mittelblock geleitet wurden. Die Verantwortung dafür wurde dem leitenden Polizeioffizier gegeben. Überhaupt kritisiert der erste Teil des Reports vor allem die Polizei, die alles falsch gemacht, was Ordnungshüter in dieser Situation falsch machen können.
Der zweite Teil des endgültigen Berichts widmet sich aber der baulichen Qualität des Hillsborough-Stadions, die Unzulänglichkeit der Zugangswege und vor allem dem Ignorieren damals schon verlangter Sicherheitsstandards.

Die Folgen
Wie genau die Empfehlungen des Lord Justice Taylor zustanden kamen – bis heute wird heftige Lobbyarbeit interessierter Kreise gemutmaßt -, ist nicht bekannt. Aber zu dessen Leitsätzen gehörte einerseits der Abbau aller Zäune in englischen Stadien, andererseits aber die Umrüstung auf reine Sitzplatzstadien. Auch das generelle Alkoholverbot kommt aus dieser Ecke. Der entscheidende Punkt ist aber die Empfehlung, die Eintrittspreise – die damals bei einigen Vereinen der ersten Liga weniger als umgerechnet fünf Euro lagen – drastisch zu erhöhen, um – wie es verbitterte Fans ausdrückten – „den Pöbel vom Fußball fernzuhalten“. Damit muss Peter Taylor zum Vater des modernen Event-Fußballs erklärt werden, der in England das totale Ende des typisch englischen Supporter-Wesens nach sich zog.

Inzwischen ist das Fan-Wesen in der Premier-League fast vollkommen kommerzialisiert. Dauerkarten können sich nur noch Besserverdiener leisten, und die echten Fans haben sich bei vielen Traditionsvereinen zurückgezogen, haben eigene Clubs gegründet (AFC Wimbledon) oder sich gar für einen Verein in einer der unteren Ligen entschieden. Erst ab der dritten Ligenebene abwärts gibt es noch die Stimmung, für die englische Stadien über fast hundert Jahre berühmt waren.

Bis heute ist den Toten und deren Angehörigen keine Gerechtigkeit widerfahren. Es wurden keine Entschädigungen gezahlt. Was den Anhängern von Liverpool FC bleibt, ist der spezifische, im Desaster von Hillsborough geschmiedete Geist und ihre Hymne: You’ll never walk alone.


[Zuerst erschienen in der Rainer’schen Post am 12.04.2012]

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