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Fortuna-Punkte: Das typisch Düsseldorfer Nörgeln

Als ich 1958 oder 1959 zum ersten Mal mit meinem Vater ins Rheinstadion ging, um ein Spiel der glorreichen Fortuna in der legendären Oberliga West zu sehen, war das kein sehr angenehmes Erlebnis. Vati hatte – vermutlich, weil sie günstig waren – Karten für den sogenannten „Rentnerblock“ erworben, der sich von der Haupttribüne gesehen links neben dem Marathontor befand. So standen wir mitten unter Tausenden älteren Männern, die Kleppermäntel und Hüte trugen und stinkende Stumpen qualmten. Und weil es ja damals kaum so etwas wie „Support“ gab, sondern nur gelegentliche Anfeuerungsrufe der Schlachtenbummler, konnte man das durchgehende Gemurmel der Herren, von denen nicht wenige mit Gehstöcken bewaffnet waren, nicht überhören. Der Grundton war negativ, die Rentner nörgelten und grantelten in einem fort. Dazwischen stand nun der Knirps von sechs Jahren, seine Hand in Vatis Hand, und versuchte, zwischen den dunklen Mänteln einen Blick auf den grünen Rasen zu erhaschen.

Kann sein, dass die Jungs in Rotweiß an diesem Tag schlecht spielten. Ich weiß aber, dass im Rentnerblock auch dann genörgelt wurde, wenn die Fortuna ihre Gegner nassmachte. Ja, selbst in der Aufstiegssaison 1965/66, in der wir etliche Partien besuchten und nicht immer im Block der dunklen Männer standen, bildete das dumpfe, negative Murmeln – gelegentlich aufgehellt durch Unmutskundgebungen in Düsseldorfer Mundart à la „Jank, jank, du Tuppes!“ – den Grundton der akustischen Atmosphäre. Nun wissen Fußballhistoriker, dass es bis in die Siebzigerjahre hinein in deutschen bzw. europäischen Fußballstadien durchaus unüblich war, die eigene Mannschaft durchgehend anzufeuern, aber Leute, die diese Ära bei anderen Traditionsvereinen erlebt haben, wissen durchaus nicht zu berichten, dass bei ihnen ständig genörgelt wurde.

Viel zu viel Genörgel

Nun entbrennt ja unter F95-Fans seit mehr als einem Dutzend Jahre alle Naselang die Debatte darüber, dass auf den Rängen, in den Lokalmedien und vor allem in Foren und auf Facebook viel zu viel über das genörgelt wird, was das jeweilige Team so treibt. Und dann heißt es immer: typisch Düsseldorf. Das ist so falsch nicht, dafür liegen die Diskutanten oft daneben, wenn sie dieses lokaltypische Verhalten zu erklären versuchen. Eine Quelle kennen wir bereits: Ein großer Anteil an alten, von ihrem Leben (ein bis zwei Weltkriege, viel zu viel Arbeit, zu wenig Sex…) ehr oder weniger enttäuschten Männer lassen ihre Grundfrustration an den Kickern aus – oft mit dem Argument, sie hätten gezahlt, sie wollten Leistung sehen. Aber das kann natürlich so auch in anderen Städten gewesen sein.

Was aber meist ganz vergessen wird: Der ächte Düsseldorfer ist keine Frohnatur. Tatsächlich ist unsere geliebte kleine Großstadt zwar am Rhein gelegen, neigt ethnisch tatsächlich aber mehr dem Bergischen zu. Ja, historisch betrachtet war Düsseldorf über Jahrhunderte die Hauptstadt der Region, die wir heute „Bergisches Land“ nennen, und so wenig rheinisch wie beispielsweise Duisburg oder Dinslaken. Nun sind die Bergischen über alles betrachtet keine ausgesprochen fröhlichen Menschen. Wie Leute, die in dunklen Tälern zu leben gezwungen sind, neigen sie zu einer pessimistischen Grundhaltung und reden nicht viel. Genau diesen Typus kann man heute noch in den letzten verbliebenen Gastwirtschaften in den äußeren Gebieten Düsseldorfs an den Stammtischen finden. Und dieser Charakter bildet das krasse Gegenteil zur ethnischen Grundstimmung des Kölner, die man mit dem veralteten Psycho-Begriff „manisch-depressiv“ am besten beschreiben kann.

Der bipolare Kölner

Geht’s dem Kölner gut, dann ist er auf eine übertriebene Art glücklich, dann findet er sich und seine Stadt unglaublich klasse, ja, dann lebt er als Supertyp in der besten Stadt der Welt. Liegen die Dinge eher schlecht, stürzen Stadtarchive ein und steigen Äff-Zeh-Teams ab, dann versinkt er in einer geradezu erbärmlichen Jammerei und sucht die Schuld vor allem bei allen anderen. Irgendwas, das mit seinem Domdorf zu tun hat, kann der Kölner nicht einfach so hinnehmen. Der Düsseldorfer ist im Vergleich dazu pessimistisch geprägter Fatalist, der das urrheinische Motto (das ursprünglich gar nicht rheinisch ist…) „Et is wie et is, et kütt wie et kütt, und et hat immer noch jotjejange.“ sehr viel tiefer in seiner Seele sitzen hat. Dieser bergische Düsseldorfer weiß: Es gehen mehr Sachen schief als dass sie klappen. Und wenn man zum Beispiel mit der Einstellung „Oh je, die steigen bestimmt wieder ab…“ an die Fortuna-Saison geht, kann man ja auch nicht enttäuscht werden.

Da mag man mangelnde Euphorie angesichts des drohenden Aufstiegs in die erste Bundesliga kritisieren; aber der Düsseldorfer an und für sich kann ja auch nicht aus seiner Haut. Das Tolle an dieser Mentalität ist: wird der Düsseldorfer, namentlich der F95-Fan, positiv überrascht, zum Beispiel durch einen ersten Tabellenplatz am Ende der Saison, dann kann er aber dermaßen den Knoten platzen und die Puppen tanzen lassen! Während der Kölner in solchen Situationen vor allem von sich selbst besoffen ist, könnte der Düsseldorfer dann die ganze Welt (ausgenommen vielleicht das hässliche Städtchen mit der Bahnhofskapelle ohne Uhr) umarmen, trinkt mit jedem, lacht und singt und ist ganz und gar bei sich – so lange ihn dat lecker Alt nicht ins Koma geschickt hat.

Vorsicht vor den Wutkonsumenten

Leider, leider, leider aber ist der Düsseldorfer in seiner Eigenschaft als Anhänger der bisweilen launischen Fortuna nicht mehr unter sich. Das galoppierende Wachstum der Bevölkerung durch den Zuzug von Menschen, die hier ihr berufliches Glück machen wollen, führt zu einer Verdünnung des puren Düsseldorferischen auf den Rängen der Arena. Einerseits bringen diese Neubürger jede Menge Positives mit, sind es von zuhause aus vielleicht gewohnt, sich erst zu freuen und dann zu ärgern, oder haben es von Kindesbeinen an gelernt, auch dann zu feiern, wenn alles Scheiße ist. Andererseits neigen ja gerade beruflich Erfolgreiche dazu, alles in Euro und Cent zu verrechnen und immer eine dem gezahlten Preis angemessene Produktqualität zu bekommen. Diese Spezies bringt dann nicht selten eine turbokapitalistische Schärfe ins nörgelnde Grundrauschen. Und wenn der noch amtierende Oberbürgermeister und Hertha-BSC-Fan Geisel die Nachverdichtung der Stadt im aktuellen Tempo vorantreibt und immer mehr Wutkonsumenten in unser schönes Städtchen holt, dann könnte aus dem typisch Düsseldorferischen Nörgeln schnell ein Anspruchsdenken nach dem Motto „Leistung gegen Geld“ werden. Lassen wir uns überraschen.

[Titelbild: Ausschnitt aus dem Foto „1954 Hungary 7–1 England, (association football friendly) Golden Team“ von FORTEPAN via Wikimedia unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung 3.0 nicht portiert“]

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