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Fortuna-Punkte: Ohne Ultras war es früher viel besser. Ach ja? – eine kurze Historie des Anfeuerns

Welcher langjährige Fortuna-Fan erinnert sich nicht noch gern an den 28. August 1996? Eine gigantische Choreografie überspannt fast die gesamte Gegengerade, überall rotweiße Fahnen im weiten Rund des guten, alten Rheinstadions. Die Löwen aus München sind in Massen angereist. Überall in den Heimblöcken flammen herrliche Anfeuerungen auf, die Stümmung ist grandios, die Fans pushen das Team von Aleksander Ristic unaufhaltsam nach vorn. Spaß beiseite: An einem Mittwochabend bei unangenehmem Regenwetter um 19:30 treffen zwei Traditionsclubs vor 11.500 Zuschauern aufeinander und bieten ein trostloses 0:0, das niemanden mitreißt – auch nicht die Fans im legendären 36er.

Banner gibt es nicht, zwei, drei Zaunfahnen sind zu sehen. Nur wenige Fans sind in den Vereinsfarben gekleidet, rotweiße Mützen gibt es, aber so gut wie keine Trikots. Das Spiel plätschert vor sich hin. Bei den beiden einzigen ernsthaften Chancen für F95 erschallt ein paar Mal der Schlachtruf „Fortuna, Fortuna!“ Der Familienblock ist praktisch leer, und auf der Haupttribüne wird 90 Minuten lang gemurmelt. Aus heutiger Sicht eine 1a-Old-School-Atmosphäre. Nun neigt der Mensch ja dazu, die Erlebnisse seiner Jugend zu glorifizieren und daraus ein Früher-war-alles-besser abzuleiten. Aktuell findet das besonders oft und massiv in den sozialen Medien rund ums beliebte Ultra-Bashing statt. Da schreibt einer, er gehe seit 38 Jahren zur Fortuna, weil er „einfach nur Fußball“ sehen will und beschreibt dann das Wunderland des situationsbezogenen Supports ganz ohne Getrommel und Vorsänger.

Früher war es meistens eher mau

Kommt schon, Jungs, bei der Fortuna war die Stümmung im Rheinstadion über die vergangenen 60 Jahre gerechnet meist eher mau. Hörbare Gefühle gab es bei vergebenen Chancen und bei erzielten Toren. Ansonsten wurden die Spieler gern als faule Schweine beschimpft, es wurde vorwiegend gemeckert, und die Zahl der Schlachtrufe zwischen etwa 1967 (der ersten Erstligasaison der Fortuna) und ungefähr 2002 (der Rückkehr an den Flinger Broich) kann nur als überschaubar bezeichnet werden, die Menge der Lieder ebenfalls. Fahnenmeere, Großchoreos und, ja, auch Pyroshows sind eine Errungenschaft der vergangenen gut 15 Jahre und kamen mit der Gründung der hiesigen Ultra-Gruppierungen.

Nicht dass wir uns missverstehen: Gerade bei einigen legendären Auswärtsspielen der glorreichen Fortuna in den Neunzigerjahren brachten die Mitgereisten einen bunten, lauten Strauß an Anfeuerungen mit. Und auch bei den Pokalfinalspielen damals wurde viel gebrüllt. Aber immer sehr individuell, unkoordiniert und selten wirklich eindrucksvoll. Schaut man sich Videos von Bundesligaspielen der Sechziger- und Siebzigerjahre an und achtet dabei auf den Ton, dann wird man meist nur ein gleichförmiges Tuten der damals beliebten Tröten hören. Und davor war die Stümmung überhaupt noch nicht erfunden.

Das große Gemurmel im Rheinstadion

Mein Vater war großer Fußballfreund ohne Anhänger einer bestimmten Mannschaft zu sein – kein Wunder, er war ja Migrant aus dem Osten, Pommern, um genau zu sein. Aus mir unverständlichen Gründen hatte er ein Faible für Tennis Borussia Berlin und den BVB. Aber, er ging mit uns Jungs eben auch ins Rheinstadion zur Fortuna. Das allererste „richtige“ Spiel (vorher waren wir einige Male auf dem TuRU-Platz zum Zugucken) dürfte ein 1:1 gegen den 1. FC Köln am 25.10.1959 gewesen sein, da war ich noch keine sieben Jahre alt. Angeblich hatten sich 35.000 Zuschauer am Flinger Broich eingefunden…

Ab 1961 spielte die Fortuna dann regulär im Rheinstadion. Einmal war der Laden rappelvoll – es könnte das Pokalhalbfinale am 22.08.1962 gegen Schalke gewesen sein. Wir standen rechts vom Marathontor im sogenannten „Rentnerblock“. Die Männer trugen Hüte und rauchten stinkende Stumpen. Es gab nicht wenige Kriegsversehrte, die an Stöcken gingen. Es war warm, und man stand da im Oberhemd mit Krawatte, die Ärmel aufgekrempelt, das Sakko über dem Arm. Sehen konnte ich nicht viel, weil die Zuschauer eng standen und mich Elfjährigen durchweg überragten. Angefeuert wurde eigentlich nicht; man schwieg oder klatschte, pfiff oder meckerte ein bisschen. Das war alles.

Auf diesem Hintergrund frage ich mich immer, wann genau denn diese gloriosen, ultra-freien Jahre waren, in denen Schlachtenbummler die Mannschaft lautstark anfeuerten, ohne dass irgendjemand sie dazu animiert hatte. Ja, Einpeitscher hatte es gegeben, und die waren schon in den Fünfzigerjahren bei Fußballfreunden unbeliebt. Bei der WM in Schweden 1958 liefen solche Vorsänger auf der Laufbahn vor den Tribünen her, schwenkten die Landesfahne und animierten die Zuschauer mit ihnen „Heja, heja, Sverige“ zu brüllen. Mein Vater fand das unfair.

Manolo, der erste offizielle Trommler der Bundesliga

Und in der Bundesliga? Der erste „offizielle“ Trommler und Vorsänger war der legendäre Manolo bei Borussia Mönchengladbach, der ab 1977 auf dem Zaun im Stadion am Bökelberg saß, auf seine Bomba schlug und die Fans zu Anfeuerungsrufen animierte. Nachahmer fand der gute Ethem Özerenler zunächst nicht. Zwar waren ab Anfang der Siebzigerjahre bei allen Bundesligavereinen Fanclubs entstanden, deren Mitglieder bei den Spielen zusammenstanden, die zu Auswärtsspielen gemeinsam anreisten und auf ihren Kutten dieselben Aufnäher trugen. Aber die sahen ihre Aufgabe nicht in konzertiertem Support.

Den gab es bis dahin ausschließlich in Lateinamerika, wo man bereits Trommler und Kapos kannte. Es werden die Filmaufnahmen (TV-Live-Übertragungen gab es damals noch nicht) von der WM 1950 in Brasilien oder überhaupt von Spielen im legendären Maracana gewesen sein, die europäische Fußballfans zur Nachahmung getrieben haben. Die allererste Fan-Gruppierung, die den Ultra-Gedanken in Europa lebte, war die Torcida von Hajduk Split, die 1950 gegründet wurde und ihren Namen vom entsprechend Begriff brasilianischer Fans übernahm. Mangels Bildberichterstattung vom jugoslawischen Vereinsfußball erfuhren die Fußballfreunde Europas davon über viele Jahre nichts.

Torcida Split, die Mutter aller europäischen Ultras

Sichtbar wurden lautstarke Fan-Gruppen aus den Balkanländern und dem mediterranen Raum erst mit den Fernsehübertragungen vom Europapokal – sofern Mannschaften aus Jugoslawien und Italien daran beteiligt waren. Bei den Vereinen aus dem Vereinigten Königreich hatte sich ab etwa 1930 eine ganz andere Form des Supports entwickelt, die ihren Ursprung in der britischen Arbeiterklasse hatte. Denn die hatte ihre Kampflieder, die nicht nur bei Streiks zum Einsatz kamen. Viele dieser Arbeiterlieder wurden von Freunden des getretenen Balls auf ihren jeweiligen Verein umgedichtet, und weil alle Lads im Stadion die Melodie kannten und sich die Texte herumsprachen, sangen nicht selten 20.000, 30.000 und mehr Fans diese Songs, um ihr Team anzufeuern.

Bis weit in die Achtzigerjahre hinein hatten sich die deutschen Fans eher an dieser Form des Supports orientiert; das Liedgut blieb jedoch schmal, weil es an Arbeiterliedern fehlte. Mittlerweile nachweisbar ist, dass es die Fans der Düsseldorfer EG waren, die im legendären Eisstadion an der Brehmstraße eine spezifisch deutsche Form der Anfeuerung erfanden. Statt Kampflieder der Arbeiterklasse wurden Popsongs sowie Volks- und Weihnachtslieder umgedichtet – auch das schwedische „Heja, heja“ der Fußball-WM 1958 wurde adaptiert. Weil aber selbst in Düsseldorf die Menge der Fans, die sowohl zur DEG, als auch zur Fortuna gingen, eher gering war, schwappte das Prinzip zunächst nicht ins Rheinstadion über.

Von der DEG lernen hieß Anfeuern lernen

Das Treiben der Torcida Split aber erregte schon ab den frühen Sechzigerjahren Aufsehen bei den Fans der italienischen Fußballvereine. Anders als in Deutschland oder auch England galt der Calcio schon seit den Zwanzigerjahren als Austragungsort für Städtefeindschaften – die in Italien eine Tradition bis zurück ins Mittelalter haben. Campanilismo nennt man das Prinzip, dass die Stadtviertel rund um einen Kirchturm (Campanile) sich miteinander messen – z.B. im Calcio Storico. Übertragen haben die Italiener das vor allem auf den Dauerkonflikt des Nordens mit dem Süden und Sizilien. So galt das „Derby“ zwischen der Roma und Napoli schon in den Vierzigerjahren als Krieg der Städte, in deren Umfeld sich die Fans auch schon mal kloppten. Hier liegen die Wurzeln der Ultra-Kultur, die Jungs in Deutschland ab etwa 1990 übernommen haben.

Soweit der Ausflug in die Kulturgeschichte des Supports beim Fußball. Gerade in Deutschland haben sich die verschiedenen historischen und zeitgenössischen Fankulturen meistens gemischt, mal haben sich die deutschen Anhänger eher an den britischen Vorbildern orientiert, mal mehr an den lateinamerikanisch-mediterranen. Seit knapp 20 Jahren sind es die Ultras, die das Anfeuern nach ihren Prinzipien populär gemacht haben und – zum Leidwesen der Oldschool-Anhänger – die Kurven beherrschen. Weil aber die Art und Weise wie Fans ihre Mannschaften unterstützen im ständigen Wandel sind, werden auch die Ultra-Prinzipien nicht ewig Bestand haben. Aber: Wenn die Ultras schwinden oder gar verschwinden, wird es natürlich auch die tollen Sachen nicht mehr geben, an denen sich in den letzten Jahren alle erfreut haben – zum Beispiel die wundervollen, die ganze Süd überspannenden Choreos und die von (fast) der ganzen Arena geteilten Gesänge und Parolen. Und dann wird es wieder ganz, ganz viele Leute geben, die dem nachtrauern und sagen: Früher war alles besser.

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