Hannover vs F95 1:0 – Harmlose Herzchen
Im neuen Testament heißt es: „Liebe deinen Nächsten.“ Ob die Autoren damit meinten, dass ein Fußballteam seinen Gegner lieben und deshalb schonen sollte, ist unwahrscheinlich. Die Mannschaft der glorreichen Fortuna trat am Sonntag im Niedersachsenstadion jedenfalls passend zur Herzchen-Choreo der mitgereisten Fans auf. Und da ist nicht nur die gefühlte Temperatur der ungefähr 10.000 F95-Trainer, die in den Foren und sozialen Medien lauthals herummeinen, sondern ein Eindruck, den wieder einmal die offizielle Statistik belegt. Danach war das Team der Trainer Funkel und Hermann stark in den Zweikämpfen, aber offensiv praktisch nicht existent. Ganze zehn Torschüsse nach genau sieben Flanken stehen zu Buche – ALLE Flanken stammten von Verteidigern. Wobei: Beim gewählten System mit 3er-/5er-Kette übernehmen ja die Außenverteidiger die Rollen als Flankengeber. Beim Passspiel sah es nicht besser aus: Hier zeigte sich von den nominellen Spielgestaltern nur Christian Gartner kreativ genug und versuchte 31 Mal die Pille in die Spitze zu legen.
Man kann nun – und das tun einige lokale Sportkommentatoren – behaupten, Friedhelm Funkel habe der Mannschaft das risikoarme Spiel verordnet. Und findet dann auch Argumente dafür. Zum Beispiel, dass erneut ohne Mittelstürmer gespielt wurde. Und dass der Vollblutstürmer Emma Iyoha erst in der 88. Minute auf den Rasen kam, obwohl die Hannoveraner schon ab etwa der 75. Minute unkonzentriert und müde wirkten und erhöhter Druck vermutlich zu ein paar Torchancen für die Weißen geführt hätte. Aber schon die Partie gegen den FCSP hatte gezeigt, dass Oliver Fink bei aller Laufbereitschaft und allem Kampfgeist eine Position in der Spitze nicht erfolgreich umsetzen kann. Außerdem rotierten die drei nominellen Stürmer nicht in dem Maße, in dem sie dies beim Spiel in der Vorwoche getan hatten. Ihlas Bebou, der mit seinem Ballgeschick und seiner enormen Geschwindigkeit die ihm zugeteilten H96er schwindlig spielte, mangelte es aber an Ideen. Und Özkan Yilidirim blieb durchweg bemüht, aber harmlos.
Der Charme der Dreierkette
Das Spiel mit der Dreierkette macht die eigentlichen Außenverteidiger beim Spiel mit dem Ball zu Halbstürmern – das macht ja den besonderen Charme dieses Systems aus. Wenn nun aber die beiden AV nicht gut mit den Außenstürmern harmonieren oder einfach keinen so guten Tag haben, bleibt die Mannschaft zwangsläufig harmlos. Leider klappte die Kooperation von Lukas Schmitz und Yildirim gar nicht. Weil Schmitz zwar wieder fleißig, aber eher uninspiriert agierte, fand auf der linken Seite wenig statt. Auch Julian Schauerte hatte keinen ganz großen Tag, kam aber insgesamt öfter zu Steilpässen und Flanken. Dabei hätte es so leicht sein können. Der Hannoveraner Sané spielte als Innenverteidiger 90 Minuten lang unsicher, geriet bei jedem Pressing in Verlegenheit und ließ sich fast von jedem Fortunen austricksen oder überlaufen. Schon in der 3. Minute kam Fink nach Flanke von Schauerte so zu einer veritablen Möglichkeit. Auch 96er-Keeper Tschauner konnte mit Druck durch Fortunen nicht gut umgehen. Weil dagegen die linke Defensivseite der H96 bärenstark spielte, hätte also viel mehr über rechts laufen müssen. Vielleicht wechselte Bebou deshalb in der ersten Spielhälfte auffällig oft auf diese Spielfeldseite.
Die Aufgabenverteilung zwischen den Sechsern Gartner und Marcel Sobottka schien klar. Während Gartner den klassischen Spielmacher gab, sollte Sobottka wohl für die Beschleunigung im Umschaltspiel sorgen – was ihm aber nicht sehr oft gelang. Immerhin kam es nicht – wie in den vorangegangenen Spielen – zu serienweise Rückpässen auf Verteidiger oder Torhüter Rensing. Wieder erschreckend bis ärgerlich gestaltete sich aber die Fehlerquote nach Balleroberung. Bis zum Siegtor des Gegners in der 9. Minute gewannen die Fortunen durch aggressives Pressing bei sehr hoch stehender Dreierkette etliche Male den Ball, verloren ihn dann aber ungefähr in 50 Prozent der Fälle wieder. Trotzdem wirkte die Mannschaft aus Düsseldorf auch nach dem Rückstand weder geschockt, noch aussichtslos. Im Gegenteil: Bis zum Pausenpfiff kam es zu drei aussichtsreichen Möglichkeiten durch Bebou (17.), Sobottka (34.) und Yilidirim (37.) Minute. Der Tabellendritte aus Hannover musste sich dagegen für seine einfallslose, lethargische und fehlerhafte Spielweise die Unmutsäußerungen der eigenen Fans anhören.
Mut zum Offensivrisiko
Hätte, hätte, Fahrradkette: Hätte das Team von sich aus oder auf Befehl der Trainer in der letzten Viertelstunde der ersten Spielhälfte Vollgas gegeben und wäre die Risiken von Sturmläufen eingegangen… Wer weiß, ob man dann mit Rückstand in die Pause gegangen wäre. Denn nach dem Wiederanpfiff traten die 96er deutlich konzentrierter auf, ohne aber viel für die Offensive zu tun. Stattdessen entstanden minutenlange Geplänkel mit und ohne Kopfballstafetten im Mittelfeld, vor allem an den Außenlinien, die keinem der beiden Teams irgendetwas brachten. Und spätestens ab er 70. Minute setzten die Gastgeber auf Ergebnis-Halten – wieder eine Situation, aus der eine Mannschaft mit mehr Offensivrisiko zählbares Kapital schlagen kann.
Kommen wir zur Dreierkette. Natürlich stöhnen viele Fans inzwischen, wenn Alexander Madlung in der Startelf steht. Ja, Madlung-Bashing scheint ein neues Hobby von F95-Anhängern zu sein. Er bewege sich wie eine Schrankwand, sei deshalb leicht zu überlaufen und mache Fehler über Fehler. So kreiden ihm viele auch das Führungstor der Hannoveraner an … und tun ihm Unrecht. Schaut man sich die Szene mit der perfekten Flanke und dem feinen Kopfball mehrfach an, muss man konstatieren, dass der Torschütze von Sobottka hätte gedeckt werden müssen, nicht von Madlung. Denn der hatte seinen Gegner auf Höhe des Elfmeterpunkts voll unter Kontrolle. Tatsächlich aber lässt sich ein solch toller Spielzug kaum verteidigen, und Torhüter Michael Rensing hatte in dieser Situation gar keine Chance. Objektiv betrachtet war Madlungs größer Fehler, sich in der Nachspielzeit mit dem ungewöhnlich gut leitenden Schiri Aytekin anzulegen und so eine gelbe Karte zu kassieren. Und, ja, es war Madlung, der in den hektischen letzten sechs Minuten im gegnerischen Strafraum für die größte Gefahr sorgte.
Neben ihm traten zwei Youngster auf, wobei Gökhan Gül seinen allerersten Auftritt in einem Zweitligaspiel hatte. Seine Aufgaben löste er mit einer Klarheit und Souveränität, die man bei einem 18-Jährigen nur ganz selten findet. Auch wenn Gül in jeder Hinsicht ein anderer Typ ist, erinnerte sein Spiel am Sonntag an die Leistungen von Jonathan Tah im F95-Dress. Robin Bormuth spielte leicht angeschlagen. Auf seiner Seite brannte es trotzdem nie, und gelegentlich schaltete er sich kreativ ins Angriffsgeschehen ein. In dieser Kombination aus einem extrem erfahrenen Oldie und zwei hochbegabten Jungprofis war die Dreierkette insgesamt fast unüberwindbar. Und trotzdem wünscht man sich als F95-Fan eher einen Andre Hoffmann in der Zentrale. Und natürlich Kevin Akpoguma, dem Mannschaft und mitgereiste Fans das Spiel widmeten. Es wäre einfach furchtbar, wenn die Partie gegen Pauli, bei der er sich einen Halswirbel brach, sein letztes Spiel im Trikot der glorreichen Fortuna gewesen wäre.
Die großen Schwächen
Wie schon erwähnt: Die große Schwäche der 3er-/5er-Kette ist die Abhängigkeit von der Form der Außenverteidiger. Und weil es im aktuellen Kader mit dem blutjungen und hochtalentierten Anderson Lucoqui überhaupt nur eine echte und mit Jerome Kiesewetter eine halbe Alternativbesetzung gibt, beginnen die Offensivprobleme schon in der Defensivreihe. Eine Erkenntnis der Partie im Niedersachsenstadion könnte auch lauten: Die Rolle von Adam Bodzek als defensiver Mittelfeldler hat sich erübrigt. Mit einem Kaan Ayhan und Gartner oder Sobottka in Bestform bietet sich eine deutlich größere Variabilität als mit Bodzek. Und schließlich zeigte die Partie am Sonntag überdeutlich, dass Fortuna Düsseldorf anno 2017 zu wenige Stürmer und vor allem Stürmer mit Goalgetter-Qualitäten im Kader hat. Das konnte man schon sehen, als Rouwen Hennings noch fit war; ohne ihn wird es vollends offensichtlich.
Und hier lässt sich ein wirklich tragischer Fehler von Kaderplanung und auch Trainertätigkeit festmachen. Hennings wird nur dann zum Knipser, wenn er einen zweiten Vollstürmer an seiner Seite hat. Vielleicht hätte Iyoha in dieser Rolle hineinwachsen können, hätten Funkel und Hermann diese Variante schon in der Hinrunde öfter gewählt. So gut Yilidirim oder auch Arianit Ferati als Spieler auch sein mögen – zur Lösung dieses Problems können sie nicht beitragen. Da wünschen sich manche F95-Freunde zurecht, man möge Kemal Rüzgar aus Osnabrück zurückholen, der genau diese Rolle an Hennings‘ Seite ausfüllen könnte.
Lauthals angekreidet wurde Friedhelm Funkel übrigens der Tausch von Bebou gegen Kiesewetter in der 75. Minute, also ein positionstreuer Wechsel. Die Begründung leuchtet allerdings ein: Um sicherzustellen, dass Bebou auch am kommenden Samstag zur Verfügung steht, wollten die Trainer das Risiko einer fünften gelben Karte für den Stürmer nicht eingehen. Der Wechsel von Yilidirim zu Ferati war im Vergleich schon schwerer zu erklären.
Der Rest vom Schützenfest
Ermüdend sind die allfälligen Rituale zur Abstiegs-Droh-Zeit. Da malen Schreiber mit ernsten Gesichtern den Untergang an die Wand, während andere den Optimismus beschwören. Da treten Fans auf, die sich eine Saison in der dritten Liga wünschen. Andere verfluchen Trainer und Spieler, während die Kenner anprangern, dass Aufsichtsrat und/oder Vorstände die Schuld tragen. Und dass, obwohl noch drei Spiele bevorstehen, darunter zwei Heimspiele gegen direkte Konkurrenten. Wobei relativ klar ist, dass ein einziger Sieg genügen wird, die Klasse zu halten. Schlimm ist vor allem dieses Schlechtmachen einer ganzen Saison. Anfang der Spielzeit 2016/17 galt bei vielen altgedienten F95-Anhängern die Parole „Hauptsache wieder Fußball, der Spaß macht“ – eine verständliche Forderung nach dem Gewürge in der Vorsaison, in der ein Kader zugange war, dem es außer an individuellem Talent an allem fehlte.
Und nun baut der Abstiegsvermeider aus Neuss zusammen mit seinem Co-Trainer sukzessive junge Spieler ein, die ihre Berufungen in der Hinrunde auch oft durch tolle Vorstellungen rechtfertigen. Und dann heißt es: Funkel ist stur, der setzt nicht auf die Jugend. Wie wären denn die Reaktionen ausgefallen, wenn in der Hinrunde mit einem rotweißen Kindergarten ein Abstiegsplatz herausgekommen wäre? Sicher hätten dieselben Funkel-Kritiker dann gesagt: Warum setzt der Trainer nicht auf die erfahrenen Spieler? Wenn sich der Erfolg nicht einstellt, ist im Nachhinein immer alles falsch, was Trainer tun. So sieht es auch im Fall der Fortuna in der Saison 2016/17 aus.
Ebenfalls enervierend auch das gebetsmühlenartige Durchkauen des Restprogramms; ein Schreiber lässt sich sogar dazu hinreißen, alle möglichen Varianten nicht nur zu errechnen, sondern detailliert zu beschreiben. Und die Kommentatoren im Fernsehen können ja eh nicht anders, als ihre ständigen Klischees über den Abstiegskampf wieder und wieder abzusondern. Natürlich diskutieren alle Anhänger der launischen Diva, was geschieht, wenn dieses oder jenes Spiel der letzten Partien gewonnen oder verloren wird oder unentschieden ausgeht. Aber das ist brotlos und letztlich langweilig. Wenn eines gilt, dann dass die wahren Fans aufgerufen sind, den Spielern ihre volle Solidarität zu zeigen – nicht mehr und nicht weniger. Und da waren die wunderschönen Choreos der Mitgereisten in Hannover ein toller Anfang.
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