Die galoppierende Verwissenschaftlichung des Fußballs
Bericht · Was vor etwa 25 Jahren ganz harmlos mit dem Öhrläppchenpieksen beim Laktattest zum Beginn der Saisonvorbereitung begonnen hat, ist heute zu einer medizinischen Rundumanalyse der Profifußballer geworden. Da werden Daten erfasst, dass man nur hoffen kann, diese werden entsprechend geschützt. Da entstehen Leistungsprofile, die klar die grundsätzlichen körperlichen Stärken und Schwächen eines Kickers beschreiben. Und da wird die gern zitierte Belastungssteuerung längst nicht mehr nach Gefühl praktiziert. Aber, die Medizin ist nur ein Bereich, den die galoppierende Verwissenschaftlichung des Fußballs erfasst hat. [Lesezeit ca. 5 min]
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Die Traditionalisten unter den Fußballfreunden beklagen das. Sie sind nicht selten der Meinung, dieser ganze Kram klaue dem Fußball seine Seele. Dabei sollten wir in den Zeiten der Pandemie gelernt haben, dass nicht die Wissenschaft böse ist, sondern diejenigen, die deren Erkenntnisse bewusst missinterpretieren oder gar leugnen. Vermutlich ist der negativste Effekt all der Analysen und Statistiken, dass sie es Sportjournalisten, die den Fußball entweder nicht lieben oder deren Kenntnisse nicht ausreichen, ermöglicht sich mit Faktenhuberei durch ihre Live-Kommentare zu mogeln. Wie auch immer: Ein Blick auf die US-amerikanischen Sportarten lehrt, dass sich die Zeit ohnehin nicht zurückdrehen lässt.
Ein Hoch auf die Videoanalyse!
Ihr Ergebener erinnert sich noch gut an die dunklen Jahre der Fortuna, als das Geld hinten und vorne nicht reichte. Und er erinnert sich gern an einen gewissen „Düsselboy“ – so der Difo-Name des Ur-Fortunen Ingo Krannich -, der gemeinsam mit seiner damaligen Partnerin unermüdlich und ehrenamtlich die Spiele der glorreichen Fortuna vor Ort mit zwei stinknormalen Amateurvideokameras aufnahm und das Material den Trainern zur Verfügung stellte. Die bekamen so die Möglichkeit, eine Partie ohne lästige Kommentatortöne aus quasi-objektiven Perspektiven anzuschauen und zu analysieren. Schon damals vor mehr als zwanzig Jahren wusste man, dass Videos ideale Mittel sind, zu erkennen und zu beschreiben, was eine Mannschaft und ihre Insassen gut und was schlecht gemacht hatten.
Heute sind auf der Pressetribüne der Arena regelmäßig zwei Arbeitsplätze für die Videoanalysten des Gegners reserviert, die zudem bis zu sechs eigene Kameras auf das Geschehen auf dem Rasen richten. Das müssen ja keine voluminösen TV-Kameras sein, eine handelsübliche Actioncam richtig platziert ist meist wertvoller. Die so entstehenden Bewegtbilder laufen live bei den Analysten ein, die auf einem ihrer Laptops sofort die High- und Lowlights extrahieren und mit den heute üblichen Markern sichtbar machen. Kann gut passieren, dass während des Spiels ein Co-Trainer in den Pressebereich kommt und sich von den Analysten gewisse Szenen zeigen lässt. Eine kurze Videoanalyse während der Pause ist inzwischen auch bei vielen Teams üblich.
Zur Spielnachbereitung gehören – zunächst für den Trainerstab – mehrere Stunden Videoanalyse. Die hauptamtlichen Analysten bereiten das aufgezeichnete Material entsprechend vor, können aber auch live während des Analyse-Meetings die Wünsche der Coaches erfüllen, die eine bestimmte Szene gern aus einer bestimmten Perspektive sehen möchten. Was möglich ist, sehen wir Otto Normalfans gelegentlich bei den Fußballübertragungen der Fernsehversender, wenn Experten an Riesen-LEDs operieren. Da ist sogar das Durchspielen von Varianten möglich, da werden Laufwege deutlich und man kann nach Bedarf genau die Räume erkennen.
Und weil es Archive gibt, gehört die Videoanalyse des kommenden Gegners ganz selbstverständlich zur Spielvorbereitung. Je nach Liga sind die Trainer da auch nicht auf das Material angewiesen, dass die Sender ausgestrahlt haben. Inzwischen zeichnen die Produktionsabteilungen von Sky und Co. auch das Bildmaterial auf, dass in der Live-Übertragung nicht zu sehen war und bieten es den Vereinen an. Das erst ermöglicht es den Coaches, sich punktgenau auf einen Kontrahenten vorzubereiten. Nächste Haltestelle KI: Menschen machen Fehler, weil sie nicht unter allen Umständen emotionslose Urteile fällen; Algorithmen arbeiten im Prinzip fehlerfrei. Und natürlich gibt es bereits Systeme, die in der Lage sind, ein Fußballspiel anhand von Bildmaterial zu analysieren…
Ohne Statistiken geht gar nichts mehr
Das, was wir Normalos auf den Webseiten bundesliga.de, transfermarkt.de, kicker.de und und und an Statistiken zu sehen bekommen, ist nur die Spitze eines Eisbergs, der so groß ist wie der Ozean. Seit einiger Zeit spielen aber auch die Wettanbieter mit und liefern vor allem wett-relevante Statistiken beziehungsweise Tabellen zu Fakten, auf die man wetten könnte – zum Beispiel wann diese oder jene Mannschaft die meisten Gegentore einfängt. Hinzu kommen die internationalen Anbieter von Softwaresystemen, die Spiele mehr oder weniger automatisch in Statistiken umsetzen.
Besonders in diesem Bereich hat die KI mit ihren Algorithmen schon Einzug gehalten. Ja, immer noch sitzen Leute mit Strichlisten (die heute in Wahrheit Bildschirmformulare auf Tablets sind) und markieren Torschüsse und Fouls. Die Laufstrecken der Spieler aber werden bereits automatisch durch Tracking erstellt. In den Bildern der entsprechenden Analyse-Kameras werden die Kicker zu Beginn markiert, von da ab wird jede ihrer Bewegungen erfasst und vermessen. Die Systeme unterscheiden sich vor allem in der Bewertung – zum Beispiel folgend der Frage „Was genau werten wir als Flanke?“ oder „Wo ist der Schwellwert zwischen Fehlpass und ‚unforced‘ Ballverlust?“ Die Abweichungen in den Statistiken ergeben sich daraus.
Hier auf The Düsseldorfer hatten wir ja schon Debatten darüber, ob das Zitieren von Statistiken Spielberichte aufwertet. Einige Leser:innen vertraten die Ansicht, dass die Eindrücke, die man live durch schieres Hingucken mitnimmt, viel mehr über den Charakter einer Partie aussagen als die üblichen Werte. Ihr Ergebener würde aus eigener Erfahrung sagen: Beides gehört zusammen. Nicht selten passiert es ihm, dass er unsere glorreiche Fortuna viel schlechter gesehen hat als die Statistiken (auch im Vergleich) besagen. Aber noch öfter, gerade nach einem sogenannten „schmutzigen Sieg“, ist es umgekehrt; die Freude über die drei Punkte relativiert schnell die schlechten Werte.
Für das Coaching sind diese öffentlich zugänglichen Spielstatistiken dagegen von eher geringem Wert. Dafür gehört der Blick in die Spielerdatenbanken heutzutage zur Spielvorbereitung zwingend dazu. Natürlich kennen die Trainer viele der Zweitligafußballer auf die eine oder andere Weise mehr oder weniger gut. Aber ein Blick in die Leistungsstatistik eines Kickers, besonders mit Blick auf die Veränderungen, kann das Einstellen der eigenen Schützlinge auf diesen oder jenen Gegenspieler erleichtern.
Wie geht’s weiter?
Sowohl beim Thema Videoanalyse als auch bei den Statistiken hat es enorme Fortschritte gegeben, aber insgesamt geht die Entwicklung seit einiger Zeit nur noch in eher kleinen Schritten voran (Stichwort: KI). Dafür gibt es aber immer Trainer, die den Umgang mit den wissenschaftlichen Hilfsmitteln von der Pike an gelernt haben und wissen, diese gewinnbringend einzusetzen. Eine Zeitlang nannte man die jungen Coaches, die stundenlang Videos analysierten und Tabellen aufschlüsselten „Laptop-Trainer“. Mittlerweile geraten altehrwürdige Trainer, die sich damit nicht auskennen, mehr und mehr ins Hintertreffen – was oft zu starken Vergrößerungen der Coaching-Teams führt, weil sich die alten Recken eben die nötigen Experten ins Team holen.
Spätestens mit der Einstellung von Cheftrainer Christian Preußer ist auch unsere Fortuna dicht am Puls der Zeit. Das hat sich auch schon bei den Umbesetzungen im Trainerstab gezeigt. Für Oldschool-Fans bleibt aber immer die Frage: Gehen so die Emotionen flöten? Oder: rechtfertigt der sportliche Erfolg den Einsatz wissenschaftlicher Methoden? Betrachten wir diese Frage als offen…
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