Alles außer F95

Mein Leben mit der Fußballweltmeisterschaft – 1958 bis 2010

Spätestens nach der Wahl von Sepp Blatter ist mir der Spaß an den Fußballweltmeisterschaften gründlich vergangen.

Lesestück · Früher war nicht alles besser, aber damals haben die Fußballweltmeisterschaften noch Spaß gemacht. Und bis 2006 war ich Feuer und Flamme für die DFB-Auswahl, die sogenannte „Nationalelf“. Aber spätestens der unerträgliche Patriotenkitsch bei der „WM im eigenen Land“ hat mir die Sache vergällt. Es begann mit dem Turnier 1958 in Schweden. Da war ich fünf Jahre alt, und das Radio stand bei uns in der Wohnküche auf dem Schrank. Mein Vater war ein großer Fußballfreund. Natürlich schaltete er die Kiste jedes Mal ein, wenn es eine Live-Übertragung gab. Da spielten die Deutschen gegen die Schweden. Man hörte vor allem die lauten „Heja-Heja“-Rufe der Heimzuschauer. Vati regte sich furchtbar auf über die „Einpeitscher“, die das Publikum in Wallung brachten. Über den Platzverweis gegen den Fortuna-Spieler Juskowiak wurde er regelrecht wütend. [Lesezeit ca. 5 min]

Da wusste ich noch nicht, worum es überhaupt geht, denn mein erstes Fußballspiel erlebte ich erst im folgenden Frühjahr – eine 3:4-Heimniederlage der glorreichen Fortuna gegen den Äf-Zeh. Fußball war bei allen Familienzusammenkünften, wenn die Männer nach dem Essen bei Bier und Schnaps saßen, ein großes Thema. Und weil es noch keine Bundesliga gab, wurde oft und gern über die Nationalmannschaft debattiert. Ich war also vorbereitet, als die WM 1962 in Chile lief. Da gab es noch keine TV-Übertragungen in Echtzeit. Die Ergebnisse erfuhr man in den Nachrichten oder aus der Zeitung. Einmal die Woche kamen dann gesammelte Ausschnitte im Fernsehen. Und als fleißiger Kinogänger bekam ich viel vom Turnier in der Wochenschau mit.

Das wurde 1966 mit den Spielen in England ganz anders. Alle, wirklich alle Partien waren in der Schule Gesprächsthema, und wir waren natürlich alle Anhänger der deutschen Mannschaft. Wir freuten uns über den Sieg von Nordkorea gegen die Italiener, und das Endspiel sahen wir im Kreise von Freunden und Verwandten bei Onkel Harald, denn der hatten den besten Fernseher. Das Wembley-Tor war danach noch wochen-, ja monatelang Gesprächsthema. Als ich 1967 längere Zeit als Austauschschüler in England war, musste ich ständig was zu diesem Thema sagen.

Das vielleicht spannendste Turnier aller Zeiten war das in Mexiko 1970. Die Partien mit deutscher Beteiligung waren Straßenfeger. Alle Radio-Fernseh-Geschäfte hatten TV-Empfänger in den Schaufenstern, davor drängelten sich regelmäßig Menschentrauben. Fast jede Schulstunde begann damit, dass der Lehrer seine Einschätzung zu den Ergebnissen vortrug – es gab kein anderes Thema, wo immer ein paar Kerle zwischen zwölf und 92 zusammenstanden. Die Namen der deutschen Spieler haben sich jedem, der diese WM miterlebte, fest ins Hirn gebrannt.

Dieses Interesse, diese Begeisterung steigerte sich zur Weltmeisterschaft in Deutschland 1974 fast zur Hysterie. Bei den Begegnungen im Düsseldorfer Rheinstadion versammelten sich Tausende, die keine Karte hatten ergattern können, rund ums Stadion. Die Altstadt war pickepackevoll, Hunderte hatten das Transistorradio am Ohr, um nichts zu verpassen. Mein Schwager, der mit seiner Familie damals in Wermelskirchen wohnte, hatte zur Endspielparty geladen. Im Haus standen drei Fernseher, draußen zwei weitere. Nach dem Sieg der deutschen Mannschaft ging die Fete erst richtig los, wir feierten bis an den Rand der Ohnmacht.

Vier Jahre später war alles anders. Wer wie ich politisch interessiert oder engagiert war, konnte sich nicht so recht freuen, weil das Turnier in Argentinien 1978 unter einer brutalen Militärdiktatur stattfand. Und dann auch noch dieses WM-Lied „Buenos Dias, Argentina“ – schrecklich! Die überbordende Begeisterung der argentinischen Zuschauer konnte da wenig rausreißen.

Irgendwie war die WM 1982 in Spanien der Anfang vom Ende meiner Begeisterung. Also der Begeisterung für die DFB-Auswahl. Und das hat mit der „Schande von Gijon“ zu tun. Ich hatte mein Herz an die Algerier verloren, ganz im Sinne des David-vs-Goliath-Prinzips. Überhaupt waren wir inzwischen nicht mehr automatisch für die Deutschen, sondern gern auch für die sogenannten „Underdogs“. Der Nichtangriffspakt der Österreicher und der Deutschen kegelte die tapferen Algerier aus dem Turnier. Und dann waren da noch die saudischen Funktionäre, die ihr Team vom Rasen holen wollten.

An die Weltmeisterschaft 1986 in Mexiko erinnere ich mich kaum; keine Ahnung, warum. Und aus welchen Gründen auch immer wurde ich 1990 beim Turnier in Italien plötzlich wieder Fan der deutschen Mannschaft. Ja, ich verfolgte das Finale wie ich sonst nur Spiele der Fortuna verfolge, und freute mich über den Titel, als sei F95 Deutscher Meister geworden. Ich gestehe: Ich war Teilnehmer des Autokorsos nach dem Sieg und hatte über Stunden eine Gänsehaut.

So richtig verstanden wir Fußballfreunde nicht, weshalb die Endrunde 1994 in den USA stattfinden musste, einem Land, in dem Männer Soccer in einer Operettenliga spielten. Und trotzdem: Mein Herz schlug für Bulgarien – nicht nur wegen des legendären Trifon Iwanow. Die 2:1-Niederlage der Deutschen im Viertelfinale gegen die Bulgaren verfolgte ich im Kreis einer Schauspielertruppe am Dreieck draußen im Eiscafé, wo wir unsere Stühle so rückten, dass wir den Fernseher im Radiogeschäft nebenan gut sehen konnten.

Bei der WM 1998 in Frankreich spielte die Politik wieder eine große Rolle. Auf dem Balkan herrschte Krieg, und beim Turnier waren Mannschaften aus Jugoslawien und Kroatien am Start. Letztere fand ich ungeheuer sympathisch und fußballerisch klasse. Ich hätte ihnen den Titel gewünscht. Das deutsche Team unter Berti Vogts bestand zur Hälfte aus Grobmotorikern, zu denen konnte ich nicht halten. Frankreich mit Zizou und Thuram wurde zum ersten Mal Weltmeister.

Überhaupt war die Ära der Superstars angebrochen, die von den Medien mit aller Macht in den Mittelpunkt gerückt wurden. Das hatte auch viel mit den Veränderungen rund um die TV-Rechte zu tun. Blatter war Präsident der fast pleitegegangenen FIFA geworden und hatte nur einen Plan: Geld, mehr Geld! Die WM in Japan und Korea 2022 stand unter diesem Stern. Mich ließ das Turnier weitgehend kalt, zumal ich jobbedingt beinahe kein Spiel live sehen konnte. Zum Glück gab es bereist Live-Streaming im Internet. Und weil das Web für die Kollegen und Kunden noch Neuland war, konnte ich manches Spiel (ohne Ton, natürlich) während irgendwelcher Meetings auf dem Laptop verfolgen.

Vermutlich war die WM in den USA 1994 die erste, bei deren Vergabe es nicht mit rechten Dingen zuging, die Endrunde 2006 in Deutschland kam, das wissen wir heute, auf jeden Fall als Ergebnis diverser korrupter Aktionen. Das wussten wir damals nicht, und als Fußballfreunde freuten wir uns ziemlich auf das Turnier. Und dann setzte der Patriotismuswahnsinn ein. Plötzlich waren alle Schaufenster in den Nationalfarben geschmückt, schwarz-rot-gold-gelockte Menschen überall. Die gigantischen Public-Viewig-Events hatten nichts mit Sport zu tun, aber viel mit Party, Saufen und F***en. Ich war jedes Mal froh, wenn sich irgendwo die Gelegenheit ergab, in einer nationalfreien Runde ein Spiel zu sehen. Spaß hatte ich an dieser WM nicht, deren Legendenbildung vor allem von Sönke Wortmanns Film „Sommermärchen“ vorangetrieben wurde.

Wir wissen auch, dass die Vergabe des WM-Turniers an Südafrika 2010 auf einen Alleingang von Sepp Blatter zurückzuführen ist. Als das Land am Kap den Zuschlag bekam, war Südafrika in einem Zustand, der in keinster Weise darauf hinwies, dass sie das Turnier erfolgreich hinbekommen könnten. Die sozialen Verhältnisse waren fürchterlich, Gewalt beherrschte das Land, die Armen waren ausgeschlossen – und tatsächlich auch vom Besuch der Spiele. Den Rest gab mir ein Düsseldorfer Unternehmer, der sich die Rechte an der Support-Tröte Vuvuzela sicherte, Tausende der Dinger in Schwarz-Rot-Gold fertigen und völlig überteuert vertickte. Der Kommerz hatte endgültig gesiegt.

Als das Turnier 2014 in einem Brasilien stattfand, in dem friedliche Proteste gegen Fahrpreiserhöhungen mit Polizeiwaffen niedergeschlagen wurden, in dem Hunderttausende Favela-Bewohner aus ihren Quartieren vertrieben wurden, die man dann abriss, da hatte ich von Anfang an keine Lust. Soweit ich mich erinnere, habe ich keine Partie über die ganze Länge gesehen. Als Deutschland gegen die USA antrat, saßen wir im Kino und sahen uns den Film „Boyhood“ an. Ich kann man mich an ein Spiel mit griechischer Beteiligung erinnern und daran, dass ich die zweite Halbzeit des Finales eher unfreiwillig in meiner Stammkneipe sah. Mir ging die ganze FIFA-Sch***e am Südende vorbei!

Die Fußballweltmeisterschaft in Russland habe ich aus politischen Gründen vollständig boykottiert. Die Ergebnisse erfuhr ich aus den Nachrichten, und wer Weltmeister geworden ist, weiß ich nicht auswendig. Ist doch wohl klar, dass ich auch die WM in Katar im vollen Umfang verweigere. Der Spaß ist schon lang vorbei.


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