Videobeweis: Grundlegend verändern oder abschaffen
So kann es mit dem VAR-System in den deutschen Bundesligen nicht weitergehen, so viel ist klar. Aber, was dann?
Meinung · Mittlerweile sorgt das Aufpoppen der kölschen Grufties ganz unabhängig davon für Unmut in den Stadien, um welche Situation es geht und welches Team möglicherweise profitiert. Dem „Scheiß-DFB“ wird von den aktiven Fans beider Mannschaften dann gern zugerufen, er mache „unseren Sport kaputt“. Zuletzt gesehen und gehört beim Spiel der glorreichen Fortuna gegen den BTSV. Spätestens bei dem sogenannten „Eigentor“ von Flo Kastenmeier wurde klar, dass der Videobeweis in der heutigen Form nicht funktioniert. [Lesezeit ca. 6 min]
Ein bisschen Geschichte
In der American-Football-League NFL gibt es den Videobeweis schon seit gut 20 Jahren. Basis ist dabei eine sogenannte „Challenge“. Jeder Headcoach kann zweimal pro Partie von dem Recht Gebrauch machen, eine Schiedsrichtentscheidung überprüfen zu lassen. Dies betrifft fast ausschließlich die Frage nach der Position des Balls bzw. die eines Spielers beim Catch. Beim Wechsel des Angriffsrecht und bei erzielten Punkten sind die Referees gehalten, dies in der Videobox zu checken. Sie müssen dies aber immer in den letzten zwei Minuten einer Halbzeit. In dieser Zeit dürfen Coaches andererseits keine Challenge beantragen. Bestätigt der Hauptschiri die Entscheidung, verliert das Team, das die Challenge gefordert hat – der Coach wirft eine rote Flagge aufs Feld – ein Timeout. Revidiert er die Entscheidung, wird das Spiel entsprechend der neuen Lange fortgesetzt. Bei den NFL-Partien sind bis zu 80 Kameras zur Überwachung des Spielgeschehens im Einsatz.
Ähnliche VAR-Regeln gelten auch beim Tennis, beim Basketball und beim Eishockey. Im Fußball war es der niederländische Verband, der einen Videobeweis in der Saison 2016/17 in der Erendivisie einführte. Der DFB führte den VAR in der ersten Liga in der Saison 2017/18 ein, die zweite Liga folgte 2019/20. Inzwischen gibt es den Videobeweis weltweit in fast allen Profiligen.
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Begonnen hat die Einführung durch die Zulassung der Torlinientechnik durch die FIFA im Jahr 2012. Die gibt es aktuell in der ersten deutschen Bundesliga, nicht aber in der zweiten Liga. Grund: Die Vereine stimmten gegen die Einführung, weil ihnen die Technik zu teuer war. Die sogenannte „kalibrierte Linie“, die Entscheidungen rund um Abseitssituationen unterstützen soll, ist Teil des deutschen VAR-Systems und wurde 2019/20 eingeführt.
Der Hintergrund
Von den offiziellen Vertretern des VAR-Konzepts im Fußball wird als Ziel immer wieder angeführt, der Videobeweis mache das Spiel gerechter, weil es Fehlentscheidungen ausschließe oder wenigstens minimiere. Das impliziert, dass es vorher ungerecht zugegangen sei. Rein statistisch ist das nicht wahr, denn die Fälle, in denen Fehlentscheidungen à la longue das eine oder andere Team benachteiligten, existieren nicht. Tatsächlich galt immer, dass sich auf Strecke die Fehlentscheidungen zugunsten bzw. zuungunsten eines Vereins ausgleichen.
Natürlich haben Fehlentscheidungen des Schiedsrichters oft genug Spiele entschieden, und tun dies übrigens im deutschen Fußball in den Ligen unterhalb der zweiten Bundesliga immer noch. Ebenfalls statistisch nachweisbar ist aber, dass die Anzahl solcher Fehler über die Jahre nicht angestiegen ist, obwohl das Spiel selbst ja sehr viel schneller geworden ist.
Am häufigsten kam und kommt es bei potenziellen Abseitssituationen zu Fehlern, in der Regel natürlich ausgelöst durch falsche Wahrnehmung des jeweiligen Linienrichters. Die Fernsehversender haben sich über Jahre einen Spaß daraus gemacht, ihre Standbilder solcher Situationen durch eine eingeblendete Linie kenntlich zu machen. Inzwischen gibt es eine spezielle Technik („kalibrierte Linie“), die eigene TV-Bilder der VAR mit einer solchen Linie versieht, die um ein Vielfaches zuverlässiger ist, als das, was die TV-Übertragungen zu liefern imstande sind.
So betrachtet hilft diese Technik tatsächlich, Fehlentscheidungen in Abseitssituationen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aufzudecken. Wobei sich die Frage stellt, ob die aktuell geltende Abseitsregel überhaupt noch zeitgemäß ist. Eingeführt wurde das Abseits schon in den frühen Jahren des Fußballs als Wettkampsport mit dem Ziel, die Zahl der Treffer zu minimieren. Denn vor der Definition taktischer Systeme kam es vor, dass ein Team einen Mann weit vor den eigenen Linien und hinter den gegnerischen Abwehrspielern zu postieren. Den spielte man weit und hoch an, sodass er dann Ball unbedrängt annehmen und ein Tor machen konnte. In den Zeiten des modernen Fußballs mit seinen ausgefeilten Systematiken und der viel besseren Technik der Torhüter würde eine Abschaffung oder Modifikation der Abseitsregel vermutlich gar nicht viel Einfluss auf die Anzahl der Treffer haben. Aber, egal…
Die Auswirkungen
Leidtragende der VAR-Regel wie sie in den obersten deutschen Ligen angewendet wird, sind a) die Spieler auf dem Platz und b) die Zuschauenden vor Ort im Stadion. Bei vielen, vielen erzielten Toren, bei möglichen Elfmetern und roten Karten, wird der Spielfluss unterbrochen, wenn die Videobeobachter im Kölner Keller sich beim Schiri melden. Dann stehen alle rum, während der Unparteiische sich mit den Kollegen in der Gruft unterhält. Und wenn die ihn von seinem Fehler nicht überzeugen können, trabt er an die Seitenlinie und guckt sich dort die eingespielten Bilder der Szene in aller Seelenruhe an.
Noch perverser: Eingegriffen wird oft erst, wenn die Spielsituation nach der strittigen Szene durch ein Aus oder ein Foul unterbrochen wurde. Das kann dauern. Beim Spiel F95 vs Braunschweig am vergangenen Freitag, wo es um das angebliche Eigentor von Kastenmeier ging, dauerte das handgestoppte vier Minuten. Das ist widersinnig. Und am Ende malt der Schiri einen Kasten in die Luft und zeigt seine Entscheidung an. Auf der Anzeigetafel wird in dürren Worten mitgeteilt, was überprüft wurde und mit welchem Ergebnis.
Die wahren Gründe
Profiteure der VAR-Regel sind die Konsumenten, die sich Fußballspiel zur Unterhaltung am TV anschauen, und die Sportwettenbranche – letzteres vor allem in den asiatischen Märkten. Angeblich werden allein in Indonesien an jedem Spieltag der europäischen Soccer-Ligen um die 100 Millionen Euro gesetzt. Es gibt keine zuverlässigen Zahlen über das Gesamtvolumen in diesem Geschäft, es dürfte sich aber allein beim Fußball um Billionen handeln. Auch wenn die Soccer-Entertainment-Franchises nicht unmittelbar vom Zocken profitieren, sichern die Wetter aber die TV-Quoten – vor allem der Pay-TV-Anbieter.
Ohne dies je offiziell zugegeben zu haben, behaupten Insider, dass die Betting-Industrie mit ihrer Lobby bei der FIFA massiv auf die Einführung von VAR-Systemen gedrungen hat, um so ihr Geschäft vor Manipulationen zu schützen. Tatsächlich hat sich der Graubereich der Wettszene nach der Einführung des Videobeweises zunehmend auf den unterklassigen Fußball in Europa gestürzt, wo es beinahe regelmäßig zu Hoyzer-Vorfällen kommt, wo also Spiele durch den Einfluss von Sportwettenbetreibern und -kunden verschoben werden. Bekannt wurde ein Fall, in dem mehrere philippinische Highroller, also Leute, die schnell mal eine oder mehrere Millionen setzen, ein Spiel der dritten schottischen Liga manipulierten und so einen dreistelligen Millionenbetrag abzockten.
Auch die Pay-TV-Anbieter, die in den asiatischen Märkten Spiele der europäischen Profiligen zeigen, haben auf VAR-Konzepte gedrungen, weil das Drum und Dran von VAR-Überprüfungen solch eine Übertragung noch spannender und unterhaltsamer machen. Wie ja überhaupt noch mehr Bilder mit noch mehr Emotionsgehalt und Diskussionsanlässen die Attraktivität von Soccer-Partien für Konsumenten steigern. Echte Fußballfans empfinden dagegen den Videobeweis auch dann als blöd, wenn sie nur am Fernseher dabei sind bzw. dabei sein können.
Die Alternative
Nein, mit einer Abschaffung des VAR-Systems ist nicht zu rechnen. Wie immer, wenn Unternehmen mit etwas viel, viel Geld verdienen, werden sie es durch Lobbyarbeit zu verhindern wissen, dass ihre Geschäftsmodelle zusammenklappen. Und wenn man an die Torlinientechnik und die kalibrierte Linie denkt, dann kann man feststellen, dass die Technik wirklich für weniger Fehlentscheidungen sorgen kann.
Das Problem ist nicht der Videobeweis an sich, sondern das vom DFB aufgezwungene Konzept. Das beginnt schon mit der Zentralisierung. Immerhin werden die Insassen der Gruft, die als VAR dienen, bei jedem Spiel genannt. In der NFL aber gibt es neben einer VAR-Zentrale in New York auch jeweils ein VAR-Team vor Ort, das übrigens für die Auswahl der Bilder, die den Referees geliefert werden, zuständig sind. Durch die körperliche Anwesenheit vor Ort könnte die Auswahl der Bilder und auch die Beurteilung derselben optimiert werden.
Was die Fans in den Stadien auch aufregt ist die mangelnde Transparenz. Technisch ist es überhaupt kein Problem, die Bilder, die man dem Schiri zeigt, auch auf der jeweiligen Anzeigetafel zu übertragen. Außerdem könnten die Informationen ausführlicher sein, und es könnte die Begründung für eine VAR-Entscheidung kommuniziert werden.
Und schließlich wäre eine Annäherung an das Videobeweisprinzip der NFL ein gewaltiger Fortschritt. Heißt: Nicht der VAR in der Grotte greift ein, wenn er eine Fehlentscheidung gewittert hat, sondern der Schiedsrichter kann die Bilder anfordern, wenn er sich seiner Tatsachenentscheidung in Sachen Tor, Elfer oder Platzverweis unsicher ist. Zudem sollte den Cheftrainer das Challenge-Recht eingeräumt werden. Zweimal pro Spiel sollten sie den VAR anrufen und den Unparteiischen zwingen, seine Entscheidung zu überprüfen. Bleibt die ursprüngliche Entscheidung könnte das Team, das die Challenge genommen hat, dadurch bestraft werden, dass sie einen Spieler weniger auswechseln darf.
Fest steht: So wie es jetzt ist in den ersten beiden deutschen Ligen, kann es nicht bleiben. Es würde auf Dauer den Sport kaputt machen.
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es gibt so einige Dinge, die ich beim Fußball nervend finde:
1. Einwürfe, diese werden gerne um mehr als 10 Meter verlegt und erst nach einer gefühlten Ewigkeit
ausgeführt. Lösung: wie bei der NFL läuft ein Pin-Träger auf jeder Seite mit und markiert den Ort,
an dem der Ball ausgegangen ist. Für die Ausführung bleiben dann 10 Sekunden, danach wechselt
das Einwurfrecht.
2. verlorene Nettospielzeit durch „lebensgefährliche Verletzungen“, Lösung: in den letzten 15 Minuten
jeder Halbzeit wird bei Unterbrechung die Zeit angehalten. Jeder Spieler, der liegenbleibt und so
eine Unterbrechung verursacht, muss das Feld bis zur nächsten Unterbrechung verlassen (um sich
behandeln zu lassen)
Ich habe den Superbowl dieses Jahr gesehen und ich finde es sehr wohltuend, wie dort, trotz des viel härteren Körperkontakts keine Schwalben, kein ballwegtreten oder Diskussionen um Entscheidungen auftreten, weil diese von den Schiris sofort kommuniziert werden.
Die Ausführung des „Ergebenen“ zu den Challenges für die Trainer stimme ich ebenfalls komplett zu.