Euer Ergebener

Moderne Fußballtaktik – Nagelsmann macht’s wie Thioune

Über die erstaunlichen Parallelen zwischen dem Trainer der DFB-Auswahl und unserem Fortuna-Chefcoach.

Meinung · Als sich euer ergebener Fußballbeobachter dieser Tage das Nationalspiel zwischen Frankreich und Deutschland mit überraschender Begeisterung für das DFB-Team angesehen hat, las er nachher „Die Franzosen waren aber auch schlecht.“ Das erinnerte an viele Stimmen nach dem grandiosen Sieg der glorreichen Fortuna gegen den HSV kürzlich, die ebenfalls meinten, die Rothosen hätten aber nicht so gut gespielt. Falsch, dachte der Ergebene und warf einen uralten Spruch ins Phrasenschwein: Man spielt immer nur so gut wie es der Gegner zulässt. Darin besteht offensichtlich die Parallele zwischen den beiden Partien. [Lesezeit ca. 4 min]

Hört man sich an, was Julian Nagelsmann und Daniel Thioune so über ihre Spielideen und taktischen Varianten erzählen, finden sich weitere Parallelen. Natürlich hat der Bunztrainer nicht beim F95-Coach abgeguckt, beide folgen einfach nur sehr konsequent den Entwicklungen der modernen Fußballtaktik. Die beruht auf der wissenschaftlichen Auswertung von Tausenden Spielen, ja, KI-Modelle, die derartigen Analysen automatisch generieren, sind in Arbeit.

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Bevor diese Dinger zum Einsatz kommen, müssen es eben die Coaches noch von Hand richten. In den vergangenen vier, fünf Jahren hat sich dank der sogenannten „Laptop-Trainer“ eine Menge im Fußball verändert; was genau, kann man anhand der beiden oben erwähnten Begegnungen ganz gut auseinanderfieseln.

1. Systeme, die sich in Zahlen ausdrücken, werden immer unwichtiger

Weder die taktische Grundordnung, die Thioune seinen Buben beim Spiel gegen den HSV verordnete, noch die von Nagelsmann gegen Frankreich, lassen sich in den altbekannten Mustern fassen. Diese Entwicklung hat spätestens mit dem Verschwinden des Liberos vor gut 25 Jahren begonnen. Von einem 4-4-2 oder einem 3-5-2 zu sprechen, ist nicht mehr als eine Möglichkeit, die Grundordnung grob zu beschreiben.

Das liegt daran, dass a) die klassischen „Ketten“ heutzutage dynamisch angelegt und dass b) sie zunehmend asymmetrisch ausgerichtet werden. Nur noch selten stehen die Insassen einer Viererkette tatsächlich auf einer Linie parallel zur Torauslinie. Sowohl die DFB-Auswahl als auch die Fortuna setzen auf ein Innenverteidiger-Duo als einzigen Mannschaftsteil, der vorwiegend defensiv zu arbeiten hat; die beiden Außenverteidiger agieren offensiv(er) auf den Flügel im Verbund mit ihren Schienenspielern.

2. Es gibt nicht mehr DEN Spielmacher

Alle schwärmen zurecht von Toni Kroos, aber bei genauer Betrachtung war er im Frankreich-Spiel nur einer von mindestens drei Spielmacher – im Sinne der sogenannten Spieleröffnung, bei der aus eigenem Ballbesitz ein Angriff aufgebaut sind. Neben Kroos waren es nämlich auch Gündogan (wenig überraschend), aber auch Jonathan Tah! Bei der Fortuna ist derlei Dynamik auch zu beobachten, weil nicht nur Yannik Engelhardt und Ao Tanaka als Sechser aufbauen, sondern eben auch Ísak Jóhannesson.

Das gesamte Mittelfeld wird von Nagelsmann wie Thioune höchst flexibel angelegt; die Kicker in dieser Zone wechseln häufig die Positionen, lassen sich zurückfallen oder weichen auf die Flügel aus.

3. Polyvalente Spieler, wir brauchen polyvalente Spieler!

Dass Emma Iyoha, der ja nominell Offensivspieler ist, auf beiden Außenverteidigerpositionen nicht nur Aushilfe ist, hat er hinreichend bewiesen. Und dass Tim Oberdorf jede Defensivrolle spielen kann, wissen wir auch. Denken wir an einen Dennis Jastrzembski als Außenverteidiger oder Zimbo Zimmermann als Sechser. Dass Daniel Thioune diese Kollegen immer wieder mal woanders eingesetzt hat, ist nicht bloß der anhaltenden Verletzungsmisere geschuldet, sie ist Absicht.

So macht’s auch Nagelsmann. Prägnantestes Beispiel: Kimmich als rechter AV. Dass sich gute Coaches inzwischen über das Jammern um die Wunschposition von Spielern hinwegsetzen, ist zum Prinzip geworden.

4. Räume, es geht immer nur um Räume

Was ist das überhaupt, dieser ominöse Raum? Es ist die Fläche zwischen jeweils drei oder vier gegnerischen Kickern; die Zone vor dem Ball wird so aufgeteilt, dass ein Spieler in der Vorwärtsbewegung einen möglichst großen Raum findet und dort angespielt wird. Das einstudierte Tor der DFB-Auswahl war ein Musterbeispiel dafür, dass eine gute Mannschafte solche Räume mit voller Absicht schaffen kann, denn direkt nach dem Anstoß lockten die Nagelsmann-Burschen beide Innenverteidiger nach außen. Vor dem Tor entstand ein Riesenraum den Wirtz zum erfolgreichen Torschuss nutzte.

Umgekehrt kann ein Team dem Gegner bewusst Räume anbieten, indem die Abstände zwischen drei oder vier Spielern bewusst vergrößert werden. So haben es die Thioune-Schützlinge zum Beispiel gegen den HSV gemacht – Nagelsmann auch.

5. Es gibt keine Stammelf mehr…

…denn das Personal richtet sich nach dem Gegner. Weil: Die Trainer wissen inzwischen dank der Videoanalysen recht genau, wie der Kontrahent wahrscheinlich spielen will, wie ungefähr die Spielidee des gegnerischen Coaches aussieht.

Das kann sogar wieder zur altmodischen Manndeckung führen. Die funktioniert nicht mehr nach dem Motto „Du folgst deinem Mann bis aufs Klo, wenn’s sein muss“. Stattdessen übernimmt der Manndecker sein Opfer situationsabhängig; nicht mehr so sehr, um ihn an der Balleroberung zu hindern oder ihm die Pille abzunehmen, sondern um dann anzugreifen, wenn dieser Gegenspieler zu seinen typischen Angriffszügen ansetzt. Das hat Kimmich gegen Mbappe perfekt gemacht. Das können unsere Außenverteidiger – denn deren Aufgabe ist es gegebenfalls – auch … mehr oder weniger gut.

Klar, je mehr Auswahl der Trainer in Sachen Personal hat, desto genauer kann er die Mannschaft auf den Gegner einstellen. Zweiter Vorteil: Das Team selbst wird dank der wechselnden Startspieler weniger ausrechenbar.

Fazit

Das alles ist weniger revolutionär als es sich liest. Denn eine ganze Trainergeneration hat diese modernen taktischen Grundzüge schon in der Ausbildung gelernt. Gute Trainer wie Nagelsmann und Thioune sind aber zusätzlich in der Lage, ihren Jungs diese Prinzipien beizubiegen. Weniger gute Coaches klammern sich an bekannte Systeme und starre Spielideen. Das macht den Unterschied.


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